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HISTORISCHER ZEITUNGSARTIKEL:
Volksblatt für Stadt und Land

10.1.1932

Historisches Logo der Zeitung »Volksblatt für Stadt und Land«

Zehntausend Menschen vor dem Untergang.

Aus Steyr wird berichtet:

Der Bankrott der Stadt Steyr hat weit über die Grenzen Oesterreichs hinaus alarmierend gewirkt. Die einst reichste Stadt unseres Landes, das Zentrum einer blühenden Industrie, die für alle Welt arbeitete, hat heute den traurigen Titel "die ärmste Stadt" erhalten. Von den 22.000 Einwohnern der Stadt Steyr sind heute über 10.000 arbeitslos, dem Untergange preisgegeben. Behörden und Privataktionen bemühen sich schon seit längerer Zeit, eine Sanierung in die Wege zu leiten, um Steyr vor dem Sterben zu bewahren.

So wurde auch, allerdings ergebnislos, darüber verhandelt, ob die Stadt nicht dadurch zu retten wäre, daß man Industrien aus anderen Gebieten dorthin verlegt. Neuerdings ist ein vielversprechendes Projekt aufgetaucht. Die Opelwerke wollen in Steyr die Arbeit aufnehmen, um die zum großen Teil brachliegenden Steyrerwerke neu zu beleben und deren Arbeitern wieder Verdienst zu verschaffen.

Bilder der Verzweiflung.

Nur wenige Schnellzugsstunden von Wien entfernt, im reichsten Bundeslande Oesterreichs gelegen, befindet sich diese dem Hungertod ausgelieferte Stadt. Wenn man, vom Bahnhof kommend, auf der Ennsbrücke stehend, den Blick nach den Häusern richtet, dann mutet es einen an, als wenn man eine friedliche, glückliche Stadt vor sich hätte. Die schmucken kleinen Giebelhäuschen, der typische oberösterreichische Baustil, geben ein reizendes Bild. Passiert man die "Enge Gasse", dann sieht man auf dem Hauptplatz sogar prächtige Barockbauten, die alle den Stempel einstigen Reichtums tragen. Gast- und Kaffeehäuser umsäumen den Platz; aber sie sind keine Stätten der Gemütlichkeit.

In der nächsten Umgebung der Altstadt Steyr ist eine neue Stadt emporgewachsen. Arbeiterkolonien, Bauten der Gemeinde Steyr, die in der Art ihrer Ausführung vielfach an die Wohnbauten der Gemeinde Wien erinnern, erheben sich auf den Hügeln an den Ufern der Enns. Dazwischen stehen, noch vom Kriege her, Baracken, morsch und baufällig, schiefgeweht von den Stürmen. Hier herrscht die größte Not. Hier wohnen die Arbeitslosen und Ausgesteuerten.

Tannenreisig und Holzwolle als Liegestatt.

Bilder der Verzweiflung sieht man hier. Familien mit zahlreichen Kindern haben dort nur Tannenreisig und Holzwolle als Nachtlager und schmutzige Pferdedecken als Kälteschutzmittel. Man kann nicht sagen, daß die Leute in diesen Baracken Kleider auf dem Leibe tragen; die ausgemergelten Körper sind in Lumpen gehüllt.

Interviews mit den Bewohnern dieser Baracken ergeben ein erschreckendes Resultat. Zahlreiche Familien haben als einzige Nahrung nur schwarzen Kaffee und mittags eine fettlose Suppe. Die Wärme ist die Hauptsache. Kein Wunder, daß fast alle Bewohner dieser Baracken betteln gehen. Nicht nur einer der Barackenbewohner teilt mit, daß sie wiederholt Hundefleisch gegessen haben, aber bedauernd erklären die Leute: "Man findet in der ganzen Umgebung keine Hunde mehr."

Glück und Ende einer Industrie.

Steyr war einst das Zentrum der Messerschmied- und Waffenindustrie der Monarchie, konkurrenzfähig und gesucht auch im fernsten Ausland, berühmt durch die Qualität seiner Erzeugnisse. Die Zeit einer erhöhten Waffenproduktion hat Steyr auf den Höhepunkt der Entwicklung gebracht. In Steyrdorf entstand eine Riesenfabriksstadt, die nicht nur den Einwohnern Steyrs Erwerb gab; es war ein eigenartiges Bild, wenn zeitig morgens auf den Straßen, die nach Steyr führen, aus der nahen und weiteren Umgebung hunderte Fahrräder heranrollten.

Krisenzeichen stellten sich aber in den ersten Nachkriegsjahren bereits ein, als die Waffenproduktion zwangsläufig stark reduziert werden mußte. Lohnkämpfe und die noch in trauriger Erinnerung stehende Aussperrung im Winter 1925 versetzten der Stadt und ihren Einwohnern nicht wieder gutzumachende Schläge. Die Hoffnungen, die man in die Umstellung der Waffenfabriks-A.-G. auf die Automobilerzeugung setzte, haben sich aber auf die Dauer nicht erfüllt. Immer mehr und mehr ließ die Produktion nach, die Arbeitslosigkeit wurde immer größer und so steht Steyr heute, die ehemals reichste Stadt unseres Landes, vor dem Bankrott.

Dieser Bankrott wurde noch dadurch beschleunigt, daß Steyr fast gar kein Hinterland hat. Das Ennstal ist arm, die Bevölkerungszahl gering. Die wenigen Industrien, die in den letzten Jahren im Steyrtal noch arbeiteten, sind nach und nach stillgelegt worden. Lediglich der Sektor zwischen dem Orte Sierning im Westen und Kronsdorf im Norden bildete ein Absatzgebiet für das Kleingewerbe und die Hausindustrie von Steyr. Immer mehr aber wurden diese Absatzgebiete von den nahen Städten Wels und Linz an sich gezogen.

Historischer Zeitungsartikel: Volksblatt für Stadt und Land, 10.1.1932

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