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HISTORISCHER ZEITUNGSARTIKEL:
Neues Österreich

12.7.1945

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Arbeit und Essen

Die Frequenz der Donaulände hat in den letzten Tagen abgenommen, aber nur wegen des kühlen Wetters. An der Donau nämlich, viele Kilometer stromauf- und abwärts, lagerten sich seit Beginn der milderen Jahreszeit kolossale Menschenmassen, darunter sehr viele junge, offenbar voll arbeitsfähige Leute, die es vorzogen, sich von der lieben Sonne bescheinen zu lassen, statt ihre Kräfte dem weniger sonnigen, aber weitaus wichtigeren Werk des Wiederaufbaues unserer Heimat zu widmen.

Unsere Wirtschaft, soweit sie in Gang gebracht werden kann, schreit nach Arbeitskräften. Wir brauchen regsame Hände vor allem für die Einbringung der Ernte, dann aber auch für eine große Anzahl gewerblicher und industrieller Wirtschaftszweige - es wurden ja genaue Listen veröffentlicht, wie viele Arbeiter in jeder einzelnen Sparte gesucht, aber nicht gefunden werden. Das Staatsamt für soziale Verwaltung hat die Arbeitsfähigen aufgerufen, sich bei den Arbeitsämtern zu melden. Viele sind diesem Aufruf gefolgt, viele nicht.

Sobald die Sonne wieder wärmer scheint, wollen viele Wiener wieder Neapolitaner spielen, wollen zwar nicht am Fuße des Vesuvs, wohl aber am Fuße des Leopoldsberges und des Bisamberges sich dem süßen Nichtstun widmen. Das geht natürlich nicht so weiter. Wir haben jetzt ein Gesetz über die österreichische Staatsbürgerschaft. Mit berechtigtem Stolz werden alle, die die Wandlung des großdeutschen Phantoms zur reichsdeutschen Wirklichkeit schaudernd miterlebten, sich jetzt wieder österreichische Staatsbürger nennen.

Aber deshalb, weil sie in die Register eingetragen werden, sind sie noch lange keine Österreicher. Anspruch auf diesen Ehrennamen haben nur jene, die für das Österreichertum auch etwas leisten. Und wer das nicht einsehen will, muß zur Einsicht gezwungen werden. Den arbeitenden Menschen in diesem Staate kann nicht zugemutet werden, daß sie mit ihrer Arbeit die Nichtarbeitenden erhalten, daß die einen arbeiten und die anderen essen - sei es auch in noch so bescheidenen Rationen.

Daher ist es in höchstem Maße begrüßenswert, wenn die Gemeinde Wien im Einvernehmen mit der Staatsregierung eine Verfügung erlassen hat, wonach in Hinkunft Lebensmittelkarten nur an Arbeitswillige verteilt werden. Alle Anspruchsberechtigten männlichen Geschlechts bekommen die Karten bloß dann, wenn sie entweder faktisch in Arbeit stehen oder ihre Arbeitswilligkeit durch Meldung beim zuständigen Arbeitsamt bekräftigt haben. Wer nicht arbeiten will, bekommt nichts zu essen.

Diese Entscheidung ist hart, aber gerecht. Niemand gibt sich einer Täuschung hin über den Ermüdungszustand, in den unser Volk durch den Krieg und die Kriegsfolgen geraten ist. Die Menschen sind körperlich erschöpft, sie sind seelisch erschöpft, und ihr Ruhebedürfnis ist zwar nicht verzeihlich, aber begreiflich. Doch wie sollen wir jemals aus diesem Zustand herauskommen und wieder neue Kräfte gewinnen, wenn wir die Hände in den Schoß legen und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen? Gerade weil wir erschöpft und ermüdet sind, gerade deshalb müssen wir arbeiten.

Wenn wir aber ganz ehrlich sein wollen: in vielen Fällen ist es gar nicht die körperliche Abspannung, welche die Arbeitsunlust erzeugt. Kein Zweifel, es ist die Geringfügigkeit des Reallohns, es ist das geringe Quantum an greifbaren Gütern, die als Gegenwert für die geleistete Arbeit unbefriedigend erscheinen und den Arbeitswillen lähmen. Aber auch aus diesem Gedankengang kann uns nur die Idee des Österreichertums, die Kraft des österreichischen Gemeinschaftsinteresses herausreißen.

Es ist richtig, wir bekommen für unsere Arbeit verflucht wenig zu essen. Aber wenn wir nicht mehr arbeiten als bisher, wenn nicht mehr Leute sich an der Arbeit beteiligen, werden wir noch weniger zu essen bekommen. Und wenn wir alle zusammen dasselbe tun wie die Sommerfrischler an der Donaulände, dann werden wir alle zusammen vor die Hunde gehen. Grillparzer sagt in seinem ironischen Vers über das Wienertum: "Erschlaffend wirkt dein Somm......, du Capus der Geister." Daß unsere Stadt nicht auch ein Capua der Körper werden, dem soll jetzt vorgebeugt werden, Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen.

p. d.
Historischer Zeitungsartikel: Neues Österreich, 12.7.1945

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